Urd, Verdandi, Skuld.

Im Göttinger Stadtfriedhof gibt es einen Brunnen, der zeigt drei Frauenskulpturen, in Stein gearbeitet, Steinhauer-Werk, bei einer seltsamen Beschäftigung. Sie sitzen Schulter an Schulter, als Dreieck, und halten zusammen einen Faden in der Hand (naja, aus Stein, eher ein Stein-Seil). Die eine hat den Anfang und lässt den Faden zur anderen hin 'gleiten', die eine kleine Reserve des Fadens bei sich hat und ihn zur letzten Frau hinüber gleiten lässt. Die dritte schneidet den Faden ab.

Das sind die drei Nornen, das sind mythologische Frauen aus der vorchristlichen, nordischen Gedankenwelt. Sie werden zum Beispiel in einem über 1000 Jahre alten Gedicht namens „Weissagung der Seherin, Völuspa“ namentlich genannt. Die den Anfang hält heißt Skuld, wie 'Schuld', steht aber offensichtlich für die Zukunft. Die mittlere heißt Verdandi, vielleicht 'Werdende?', jedenfalls steht sie eher für die Gegenwart; die dritte heißt Urd, steht für die Vergangenheit. Skuld wird als junge Frau gezeigt, Urd als Greisin, Verdandi dazwischen. Diese Nornen sind an der Wurzel der Weltenesche Yggdrasil zuhause, an einem Brunnen dort, aus dem sie die Weltenesche begießen und dabei das Schicksal vorherahnen oder auch herbeispinnen, so genau habe ich das nun nicht recherchiert.

Tolkien hat in ähnlicher Weise von Telperion und Laurelin geschrieben, in seinem Silmarillion. Telperion ist der silberne und Laurelin der goldene Baum; beide hat Yavanna (eine Valar, das ist eine Art von Fee oder Engel) ins die Existenz herbeigesungen. Die zwei Bäume spendeten während einer bestimmten Vor-Zeit das Licht der Welt. Die Bäume wurden mit den Tränen von Nienna gegossen, ebenfalls eine Valar. Später war dieses Licht nur noch – eingeschlossen – in den drei Silmaril enthalten, Lichtsteine, Gemmen, nach denen ja das Silmarillion benannt ist.

Der Faden, den die Norne Urd abschneidet, ist der Lebensfaden eines jeden Menschen, und ihn abzuschneiden passt dann ja auf den Friedhof. Der Brunnen stammt von einem Künstler namens Jacob W. Fehrle, der bis 1974 lebte. Wir fahren sehr häufigmanchmal an dem Brunnen vorbei, wenn wir z.B. mit den Rädern in die Stadt Markt fahren. Seltsam ist, dass die Jüngste, die den Faden-Anfang hält, mit dem Gesicht strikt nach Westen schaut (der Körper eher nach Südwesten); Die mittlere, Verdandi, sieht nach Norden, und die Greisen, die den Lebensfaden abschneidet, obwohl sie eigentlich den Blick senkt, list doch der Morgensonne aus dem Osten zugewandt. Ehrlicherweise denke ich, dass die Brunnen vielleicht anders gedacht aber falsch aufgestellt ist. Wenn man das Damendreieck dreht, so dass die Mittlere nach Süden schaut, dann würde links von ihr, die junge Skuld, nach Osten sehen und rechts von ihr, die Alte, nach Westen zur untergehenden Sonne. Das käme mir passender vor.

Okay, gerade (Okt. 2023) schlägt Israel massiv gegen den Gaza-Streifen zurück und der russische Krieg gegen die Ukraine läuft weiter, die AfD holt 18% bei Landtagswahlen, Klimawandel dazu - wir haben andere Probleme. Auch wenn Corona wohl vorbei ist. 

 

Die Norne Skuld, am Anfang des Lebensfadens.

   

Die Norne Verdandi, reicht den Lebensfaden weiter.

   

Die Norne Urd schneidet den Lebensfaden ab.

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   Links Skuld, die junge Norne, rechts Urd, die alte Norne, in der Mitte Verdandi. 
Von J.L. Lund (1777–1867): "Nornir"