Über Brigitte Link geborene Schwarz aus Oberufer bei Preßburg, in der ehemaligen Tschechoslowakei. Der Text ist von mir, ich bin ihr Sohn. Mit Elsbeth lebe ich in Göttingen, das ist 4h mit dem Auto. Karin, meine Schwester, braucht 20 Minuten mit dem Auto, wenn Ettlingen das Ziel ist. Nun ja, wer nicht einmal das weiss, wird auch den Text eh nicht lesen wollen.
Geschrieben am 8. Mai 2025 und in den Folgetagen.
>Mutti war Kind einer Flüchtlingsfamilie (Heimatvertriebene)
Unsere Mutter ist im Dezember 1939 in Oberufer bei Preßburg in der damaligen Tschechoslowakei auf die Welt gekommen, als jüngste Tochter von Zuzana und Michael Schwarz. Noch vor Kriegsende, im Februar 1945, wurden die dort seit Generationen siedelnden sogenannten Volksdeutschen parallel mit dem Vormarsch der Roten Armee vertrieben und flohen erst nach Wien und viele dann weiter, meine Mutter war ein Kind von 5 Jahren. Die Flucht war ihr Lebenstrauma, wenn sie auch selten darüber sprach. Sie wollte kein Flüchtling sein.
>Der Eichenweg
Ihre Kindheit verbrachte sie in den Flüchtlingsbaracken in Ettlingen. Ihre Mutter ging tagsüber lange Strecken zu den Bauern der Umgebung, manche hatten Mitleid und sie brachte spät abends Lebensmittel mit. Als die Familie 1955 in die Siedlung, in das Haus am Eichenweg ziehen konnte, da begann eine bessere Zeit. Die Stadt baute diese Siedlungshäuser für Flüchtlingsfamilien zu günstigem Preis. Es bildete sich dort der Siedlerverein, jeder hatte Garten, Werkstatt, zwei Schweine, Hühner, Kaninchen. Im Vorgarten und dazu noch im Schrebergarten wurde Kartoffeln und Gemüse angebaut, Äpfel, Zwetschgen, Pfirsiche und Trauben. Der Luxus war das elektrische Licht, der Kohleofen, das fließende (kalte) Wasser im Wasserstein, am Samstag Baden in der Zinkbadewanne in der Waschküche im Keller.
>Familiengründung
Mit kaum 18 Jahre heiratete sie unseren Vater Hermann Link, vor ihrem 19. Geburtstag hatte sie mich, ihren Sohn, und vor ihrem 20. Geburtstag meine Schwester, ihre Tochter Karin. Wir wohnten in eben diesem Siedlerhaus eine Treppe über der Wohnung der Großeltern, mit Dachschräge und kleinen Fenstergauben, auf 45m². Eine ältere Schwester zog von dort gerade aus mit Mann und erstem Sohn, in ein gleiches Siedlerhaus ganz in der Nähe.
>Bis zu ihrem letzten Jahr
Dort, im Eichenweg, lebte meine Mutter über alle schönen und schlimmen Zeiten bis zum Oktober 2024, als sie nach Straubenhardt-Schwann in das Seniorenheim umzog (wo sie noch sieben Monate hatte, in kurzer Entfernung von ihrer Tochter Karin). Die letzten Jahre davor lebte Mutti in ihrem Elternhaus als Witwe, die längste Zeit davon mit Rollator, stets aber mit ihrem VW Lupo, und
war einerseits unabhängig. Sie fuhr selbst zum Einkaufen, fuhr die Bettwäsche zum Mangeln, zum Friedhof, zu den Ärzten oder zu Besuch von Verwandten in der Nähe, und sonntags zu Besuch ihrer Tochter Karin mit Cheehawk, Karins Hund, der Mutti sehr mochte (20km, dann ihre weiteste Autofahrt). Sie traf sich regelmäßig mit ihren verbliebenen fünf oder sechs Schulkameradinnen wie Hanna Preis oder Ulla Sahm (Buben und Mädchen gingen in getrennte Schulen), war dabei teils deren Taxi. Andererseits aber wurde sie vielfach versorgt und hatte zunehmend mehr Hilfen, Putzhilfe, Zugehhilfe, Friseurin, Fußpflege, Gesprächstherapeutin, der Neffe Timo kam als Gärtner fürs Grobe, der Neffe Hartmut mit Sohn Tilo mähten Rasen und kümmerten sich um weitere (kleine oder lebensrettende) Dinge; andere Nichten und Neffen und die Enkel kamen zu Besuch, Nachbarn winkten über die Straße und kamen an den Gartenzaun. Mutti hatte sogar ihren persönlichen Klempner. Täglich viermal kam der ambulante Dienst wegen Tabletten und Insulin. Elsbeth (meine Frau) und ich waren mehrmals im Jahr zu Besuch, sie bekochte uns und wir kümmerten uns dann einige Tage um die Villa Altblick, das ist die 'Ranch', die unser Papa hinterlassen hat. Meine Schwester war regelmäßig bei ihr und besorgte Dinge, verwaltete Papiere, und sie war da in schlechten Zeiten. Das war in den letzten Jahren häufig, und häufig nachts, wenn es um Notarzt und Notfallstation und Krankenhausaufenthalte ging. Ich habe es wenige Male erlebt, gerade genug dass ich eine Vorstellung davon habe. Mutti aber war einsam, allein übriggeblieben, so ihre Worte.
>Die guten Stationen und Phasen in ihrem Leben. Das Helle.
Das Elternhaus am Eichenweg 10 (anfänglich Rosenweg 1) und die große Familie (Sippe), die dort über Jahrzehnte stattfand, das war ihr Grund und Halt. Mutti hatte drei Schwestern und einen Bruder, also Familien, die in ihrer Nähe wohnten, die die erste Nichte und zwei Neffen mitbrachten als Mutti noch ein Teenager war. Regelmäßig zu Besuch kamen ihre Onkel und Tanten mit deren Familien (z.B. aus Wien, aus München, aus Erding, aus Frankfurt). Es wurde zusammengesessen, gegessen, geraucht, der Rauchverzehren kokelte, es wurde getrunken (eigener Wein von den Trauben am Haus) und zum Bespiel ‚Koibischädl‘ gespielt, eine Art 66 bzw. Schafskopf mit Ober und Unter und den vier Skat-Farben, aber als Eichel, Pik, Herz und Schelle. Auch wenn die Zeiten hart waren mit viel Arbeit, so war Mutti doch das Nesthäkchen. Der Vorstand dieser Großfamilie war ihre Mutter, unsere Oma Susanne (Zuzana) Schwarz.
Ihre Lehre und viele Jahre Vollzeit und Teilzeit als Verkäuferin in der Metzgerei Neuer in der Ettlinger Kronenstraße waren prägend. Mutti war fit, fleißig, hatte Überblick, wusste Bescheid, organisierte, und weil sie auch noch brav war, war sie sehr beliebt bei Chefs, Kolleginnen, Kunden, und sie hat ihre Eltern und Familie mit Wurst und Fleisch versorgt, reichlich. In der Nachkriegszeit war das wichtig.
Schön war für sie, in die Nähschule zu gehen und dann ihren Kindern Kleidung zu nähen. Ich erinnere mich, wie die Nonne vorne am Tresen saß beim Wackeldackel, und die Frauen wie in der Schulklasse, jede an ihrer Nähmaschine.
Auf ihren Mann war sie stolz; groß und ansehnlich, zuverlässig, fleißig, geschickt. Er passte als Schwiegersohn und Schwager in diese Flüchtlingsfamilie wie in einen maßgeschneiderten Handschuh. Er hat mit seinen Schwägern sehr gut zusammengeschirrt, seine Schwiegermutter war sehr von ihm angetan.
Glücklich war Mutti über uns, ihre Kinder, stolz auf einen Sohn und eine Tochter, getröstet dadurch, dass ihre Kinder ihren Weg im Leben finden, etwas werden. Glücklich dann über ihre beiden Enkelkinder. Nichts schöner als mit ihrem Mann die beiden Enkelkinder betreuen während die Tochter Karin einen Abend in der Woche beim Judotraining war.
Zufrieden und stolz war sie, dass sie mit ihrem Mann (mit viel Hilfe ihres Bruders und Schwäger beider Seiten) das elterliche Haus um einen Anbau also Neubau vergrößert hat (praktisch verdoppelt), und dadurch Zentralheizung und moderne Küche und Badezimmer für ihre dann schon alten Eltern eingebaut wurden, und Platz war für ein Fernseh-Zimmer und für zwei Jugendzimmer und für große Feste im neuen Partykeller. Zugleich war sie tiefst zufrieden und glücklich, dass das damit zusammenhängende Erben und Auszahlen der Geschwister und Ausbauen des Elternhauses einvernehmlich liefen, ohne familiären Streit, und mit viel Hilfe von der Familie.
Glücklich und zufrieden war sie, wenn Familienfeste waren; Familienfeste wie Kommunion, Konfirmation, Trauung, runde Geburtstage. In den frühen Jahren waren solche Feste oft am Eichenweg. In heutiger Sprache übernahm sie das Catering, sie spielte ihre Karten als Fleischereifachverkäuferin aus, bescheiden und stolz zugleich. Backen konnte sie sowieso.
Glücklich und zufrieden war Mutti über die Urlaube. Sommerurlaub, als junge Familie am Bodensee oder am Vierwaldstätter See oder im Odenwald, oder später im Winterurlaub, wenn wir Ski fahren lernten oder noch später, wenn sie, also Mutti und Papa, Langlauf übten Kinder und Enkelkinder dabei waren.
Glücklich und zufrieden war sie stets, wenn ihr Mann bei ihr war. Zum Beispiel während der Taxi-Zeit, wenn sie sonntags nicht gefahren sind, da war gemeinsamer Ausflug, langer Spaziergang, auswärts essen gehen auf dem Plan, oft mit Sohn und Tochter, da war ihre Welt in Ordnung.
>Die Krisen und schlimmen Phasen in ihrem Leben. Die Angst. Das Dunkle.
Die Flucht, das Erleben der Angst ihrer Eltern und Geschwister war die Bühne für die anderen schlimmen Phasen. Von der Geringschätzung als Schulkind und Jugendliche, weil sie ein Vertriebene war, hat sie erzählt. Die Ettlinger hielten sich für etwas Besseres, die Eltern meines Vaters eingeschlossen.
Unsere Mutti sprach zwei sehr verschiedene Dialekte, den Ettlinger Dialekt und den Dialekt der alten Heimat (quasi Wienerisch). Sie hat innerhalb eines Satzes zwischen den Dialekten umgeschaltet, wenn ihr Blick von uns Kindern oder von ihrem Mann beispielsweise zu ihrer Mutter wechselte. Mutti hat ihre Mutter (Mami) und ihren Vater (Dadi) gesiezt, also sie sagte ‚Ihr‘. Habt Ihr Hunger oder Durst (hobs es an Hunger odr an Durschd) hätte sie zu ihrem Vater gesagt – es waren etwas andere Zeiten und Gepflogenheiten.
So früh schon Mutter zu sein und Ehefrau war kein Anlass für Jubel. Nichts hatte Mutti auf diesen Weg vorbereitet, die frühe Mutterschaft hat sie sich selbst nicht gewünscht. Unser Papa begann zwar schüchtern, war aber bald ein Patriarch. In die Küche ging er höchstens, wenn seine Frau einmal krank war. Da er von Haus aus Nebenerwerbslandwirt war, musste Mutti neben Haushalt und Kindern und Teilzeit-Verkäuferin noch über die Sommermonate viel zusätzliche anstrengende Feldarbeit tun, Pfirsichblüten-Sträuße binden, Erdbeerenpflücken, Pfirsichpflücken, Kirschen ernten und verlesen. Das meiste an Arbeit waren die Erdbeeren, pikieren, auspflanzen, gießen, hacken und jäten, mit Stroh unterlegen, pflücken, das Erntegut mit Fahrrad später Auto zum Wochenmarkt und anderer Kundschaft bringen. Nicht nur sie, wir alle vier, aber sie eben immer dabei und vornedran. Im Hof im Eichenweg hing an der Blechtür zu Papas kleinem Schuppen ein Schild: „Obstbäume und Beerensträucher hier zu haben“. Im Winter wurden am Eichenweg (tagsüber vom Opa Michael Schwarz) eigene Christbäume verkauft. Zusätzliche Arbeit entstand, weil Papa ihr regelmäßig eimerweise Erntegut (rote Beete, Lauch, Zwiebeln, Wurzelpetersilie, Kohl, Karotten, Kartoffel; Zwetschgen, Kirschen, Äpfel, Johannisbeeren, Feigen und so weiter) in die Küche stellte, damit sie alles einkocht oder einfriert oder Sauerkraut macht oder Marmelade oder Kuchen backte. Was sie alles brav gemacht hat. Sie konnte das alles sehr gut, sie war darauf auch sehr zurecht stolz. Marmelade haben wir immer noch.
Angsterfüllt war sie, wenn Papa einen Unfall hatte, was mehrere Male vorkam. Schon als sehr junger Mann ein Motorradunfall, später dann ein Autounfall und mehrere Male schwer vom Baum gestürzt.
Sehr schlimm für Mutti war der Brand (während der Taxi-Zeit). Ein Wohnungsbrand. Küche, Wohnzimmer, Flur, mehr. Verbrannt oder mindestens verrußt und unbrauchbar. Mit Glück waren die tragenden Balken nicht betroffen. Zugleich bewies dieses große Unglück zwei Dinge. Erstens, unsere Eltern haben zusammengestanden in dieser Lage. Und zweitens, die große Familie bewies sich. Alle waren sie da, die Häupter und Hände der Sippe, Tage und Wochen, und nach sehr viel Arbeit war die Wohnung dann renoviert.
Schlimm war für sie die Taxi-Zeit. Auch Grund für Stolz, aber täglich Stress und Krise. Papa war gelernter Landwirt und Obstbaumwart, aber er arbeitete als Kraftfahrer in der Brauerei, hat also mit dem LKW Bier ausgeliefert. Das aber hat er schon mit etwa 45 Jahren aufgegeben und mit Mutti zusammen Taxi-Link gegründet. Zwei Taxen, zwei Personen (er und sie) und 100% Selbstausbeutung. Sie fuhr genauso wie er (nur nicht nachts), und in dieser Zeit hat Papa begriffen, wo seine Frau ihm überlegen war (Namen, Ereignisse, Zusammenhänge zwischen Personen). Schlimm war, wenn sie am Telefon eine Fahrt für ihn angenommen hatte und er ging dann nicht ans Funkgerät, er übernahm die Fahrt also nicht und ließ sie hängen. Meistens war er dann in seiner ‚Villa‘ und vergaß dort die Zeit.
Man könnte denken, dass die Ehescheidung meiner Schwester für sie schlimm war, oder dass sie von Elsbeth und mir ein Pflegekind hatte und keinen leiblichen Enkel. Tatsächlich aber waren das kleinere Wellen in ihrem Leben.
Existenziell schlimm war, dass ihr als Jüngstem Kinder ihrer Eltern alle wegstarben. Ihre Eltern, die im Haus lebten, von ihr und der Großfamilie versorgt bis zum Schluss, und später dann ihre Geschwister und deren Ehepartner. Schlimm war der Verluste ihrer Nichte Elfriede und ihres Neffen Willi, und zuletzt, 2018, starb ihre Cousine Gretl, die letzte, mit der sie als Witwe über das Leben und ihre Tage in ihrem wahren, eigenen Dialekt sprechen konnte. In den letzten Jahren war sie so allein übriggeblieben wie der Prophet Elias in der Wüste. Keiner, den sie noch etwas fragen konnte; keiner, der noch mit ihr sich erinnerte woher und wie alles gekommen war. Trost waren die älteste Nichte und Neffe, die schon mit ihr waren, seit sie selbst noch Kind war. Und dann halt, 2017, als ihr Mann starb und sie allein zurückließ. Dass sie nach dieser Krise aus Krankenhaus und Psychiatrie geistig intakt wieder zurückkam in den Eichenweg und zu uns, für noch viele Jahre: Was für ein Wunder! Sie hat das selbst so gesagt und empfunden.
>Muttis Krankheiten
Mutti war fleißig und fit. Aber sie hat mit der Zeit Leiden angesammelt. Diabetes, über viele Jahrzehnte. Und Depression, mit heftigen Schüben, mit nächtlichen Fahrten zur Notaufnahme. Sicherlich hat das behütete Aufwachsen in der Großfamilie und das Wohnen im selben Haus wie ihre Eltern und im Alter dann der Verlust aller Bezugspersonen die Depression angetrieben. Außerdem auch noch Bluthochdruck, Cholesterin, Magen-Leber-Galle, später dann Hüft- und Knieschmerzen, noch später dann OP wegen Herzschrittmacher und Stents, dann eine neue Hüfte. Eine längere Phase kam sie mit dem Rollator zurecht, aber die letzte Krise im Eichenweg brachte sie in den Rollstuhl und in das Seniorenheim.
>Muttis Charakter, ihre Stärken, ihre Interessen
Mutti hat der Familie gedient und ihre persönlichen Interessen zurückgestellt. Sie hat gemacht, was von ihr erwartet wurde, von ihrem Mann und ihrer weiteren Familie. In bestimmten Themen allerdings vertraute Papa ihr blind, so wie Buchführung, Urlaubsplanung, Kleidung und andere Fragen von Geschmack und Benimm und Stil.
Sie strebte nach Frieden in der Familie und hat zur Unterstreichung als Geste mit der Hand die Falten der Tischdecke glattgestrichen. Sie war nicht frei von Jammern und Nörgeln, und ganz in der letzten Zeit war sie sehr bei sich und setzte voraus, dass für uns alle die Dinge ihrer sehr klein gewordenen Welt an erster Stelle stehen. Aber sie hat eben nicht intrigiert, nicht Unfrieden gestiftet, nicht zuerst an sich gedacht, und wie auch immer den Frieden und das Gemeinsame in der Familie als höchstes und heiligstes Gut verteidigt und eingefordert. Streit, der vorkam, ließ sie unglücklich zurück. Mutti hat sehr bedacht: „Was sollen den die Leute von uns denken“?.
Mutti war ein Gesichter-Genie. Sie konnte auf der Straße erkennen, welcher Mensch in eine ihr bekannte Familie gehörte, wegen der Ähnlichkeit. Sie verfolgte und wusste die Namen und Daten und Schicksale aller Mitglieder der europäischen Königshäuser und anderer öffentlicher Personen und Stars.
Mutti hielt mit uns und vielen Neffen, Nichten, anderen aus der Famile die letzten zehn Jahre über WhatsApp Kontakt, mit Karin und mir mehrmals pro Tag, im Eichenweg und in Schwann, und auch während der Krankenhausaufenthalte.
Die letzten Jahre, als sie immer weniger Kochen und Autofahren und Garten pflegen konnte, hat sie die Zeit ihrer besseren Tage mit Kreuzworträtseln und mit Buntstift-Zeichnen verbracht. Jeder Jubilar bekam nun einen geduldig und sehr schön gemalten Glückwunsch, viele der Zeichnungen haben es zu einem WhatsApp Status und zu Applaus und Lob gebracht. Das war schon ein Teil ihres Charakters, brav sein, Lob erheischen, gestellte Aufgaben gut ausführen. Karin und ich haben sicher einiges davon mitgenommen, nun ja.
>Kleinere Bemerkungen
Ich habe erlebt, wie meine Mutti, Karins Mama, erwachsen wurde, habe sie in der Nähschule erlebt und auch gesehen, wie sie den Führerschein gemacht hat (in einem Opel Kadett, mit Schalthebel fast so lange wie ein Spazierstock). Oder wie sie das erste Mal eine Wäscheschleuder und später eine Waschmaschine bedient hat und noch viel später zum ersten Mal eine Hose angezogen hat. Als Bob Kennedy im Juni 1968 ermordet wurde, hat sie mit mir über die Radionachrichten gesprochen (da war ich neun), während ich außen auf der Kellertreppe stand und durchs alte Kellerfenster reinschaute, wie sie in der Waschküche unsere Wäsche wusch, im Zuber mit Waschbrett.
Sie fühlte sich wohl, wenn Regenwetter war oder wenn es im Winter draußen kalt war. Weil: Dann war ihr Mann nicht in seiner Villa, sondern bei ihr im Haus, wenn auch vielleicht nur im Keller in seiner Werkstatt, wo er während seiner letzten 20 Jahre oder so dann Wanderstöcke schnitzte.
Mutti hatte zwei Namen, Brigitte für die Ettlinger und Gitta in ihrer eigenen Familie. Sie war Tante Brigitte und sie war Tante Gitta. Sie hat ihren Namen erst erfahren, weil und als sie ihn bei ihrer Einschulung nicht wusste, ihr familien-interner Rufname ‚Gitta‘ war es halt nicht.
>Und nun?
Unsere Mutter lebt nicht mehr. Karin und ich und die Kinder ihrer Geschwister haben sie als Bezug und Anker verloren. Wir trauern um sie und um unseren Papa und um ihre ganze große Familie, die sie als Letzte vertrat: Um Christl, Susi, Resi, Michel. Und um Michel, Willi, Erich, Mitzi. Und um Willi junior. Wir haben in uns diese Namen wie eine Familienliturgie: Schwarz, Siebenstich, Hetznecker, Brecht, Link. Wir alle trauern um den Opa Michel Schwarz. Und um die Mami unserer Mutter, die Schwarz-Oma, Zuzana Schwarz.
Nachträge.
Noch wieder ein anderes Mal, wir waren Kinder und hatten einen tiefen Schlaf, also vielleicht 1966 oder irgend-so, da war am Morgen in der Wohnungstür das Glas kaputt. Uns wurde gesagt, das war der Papa. Es hat einige Tage gebraucht, bis die Scheibe wieder ersetzt war. Es war ja die Tür, die im späteren Bügelzimmer das obere Ende des Treppenhauses abschloss, das von dort nach unten zum Schwarz-Opa und zur Schwarz-Oma führte. Wir dachten später, dass der Papa wohl Streit mit der Mutti hatte, das kam ja vor, und vielleicht nicht mehr nüchtern von der Brauerei und der Villa Altblick (Ranch) nach Hause kam und sie hatte vielleicht im Ärger abgeschlossen und er verschaffte sich mit Gewalt Zutritt zur seiner Wohnung, indem er eben das Glas einschlug und dann den innen steckenden Schlüssel umdrehte.
Aber. So war das nicht. Mutti hat mir erst 2024 im Sommer erzählt, was da wirklich war.
Mutti hatte an dem Tag Marillenlikör angesetzt, also aus Schnaps und zugekauftem Aroma und vermutlich Wasser und Zucker diesen Likör fabriziert (eine Tradition aus der alten Heimat). Und davon gekostet. Und eben zu viel. Da hat sie es offensichtlich noch geschafft, uns Kinder ins Bett zu bringen und musste sich hinlegen, weil sie ja überhaupt keinen Alkohol gewohnt war. Und als der Papa heim kam war eben abgeschlossen, das war vielleicht im Winter und war wohl normal am Abend, aber sie ist nicht mehr wach geworden und so, weil sie betrunken im Bett lag, deswegen hat er die Scheibe eingeschlagen. Um herein zu können. Tja. So war das also wirklich gewesen.
Als Karin noch kaum im Kindergarten war, da stand ich bei Tante Susi und Mutti bei den Trauben, beim Zwetschgenbaum, bei der Kellertreppe, und Karin war unterwegs zum Sandkasten, an den Trauben entlang nach hinten wo es schon fast zum Huber geht. Und da sagt Mutti zur Tante Susi etwas darüber, dass Karin so dünn ist und so stakst und so gakelig geht, und ich denke, als Kind eben, so ein Quatsch, was reden die Großen hier, sie geht ganz ordentlich und normal. Aber danach kam Karin irgendwie in Kur oder so, ich weiß es nicht recht, jedenfalls dem Kind musste aufgeholfen werden, dass es wächst und gedeiht.
Als Mutti schon den Führerschein hatte, naja mit vielleicht 25 Jahren denke ich mal, vielleicht auch etwas später; da hatten wir immer noch kein Auto. Endlich dann hat Papa den ersten Renault 5 gekauft, hellblau, und dann sind wir bald schon damit in die Pfalz gefahren, also zu unseren also seinen Waldstücken (von dort haben wir die Christbäume geholt, zum Verkauf am Eichenweg, viele Jahre). Und dort musst Mutti dann auf dem Waldweg üben, immer eine Strecke vorwärts und dann dasselbe rückwärts den Waldweg entlang, weil der Papa ihr das Fahren nicht zugetraut hat. Vielleicht auch, weil die Krückstockschaltung im R4 halt anders war als in dem Kadett, in dem sie die Fahrstunden hatte. Vielleicht.
Wir sind als Kinder mit der Milchflasche losgeschickt worden, um im Milchladen zwei Straßen weiter Milch zu kaufen, also offen, in die Henkelblechkanne mit Decke eingefüllt. Mutti aber, die musste als Kind bis zur Fortuna also nach der Bahnschranke links laufen, um – Bier, nicht Milch – offen zu kaufen. Tja. Aber inzwischen verstehe ich besser, dass das teilweise von den Baracken aus war, und erst später dann vom Eichenweg aus.
Als wir kleine Kinder waren, da konnte man vom Wohnzimmer aus über die Wiesen und Felder nach Westen direkt auf die Autobahn sehen, und dahinter ist dann am Abend die Sonne untergegangen. Direkt bevor es dann die Böschung zur Autobahn hinauf ging hatten die Großeltern ein Äckerle für Kartoffeln und so. Außerdem hatten viele von uns hinten an den Hohenwiesen einen Schrebergarten, also Mutti hatte den und die Arbeit damit. Oma und Opa hatten einen, Hetzneckers auch, und die Familie Brecht auch. Bei Brechts stand lange ein Goggomobil in diesem Garten.
In ihre Lehrzeit war ein Vorfall, Mutti war in der Metzgerei nicht schnell genug vom Kühlraum zurück oder hat das Falsche mitgebracht, jedenfalls hat der Senior-Chef, der alte Neuer, ihr eine Ohrfeige verpasst. Das war womöglich überhaupt die erste Ohrfeige ihres Lebens, sie sagt, ihre Eltern haben zwar schon einmal andere Geschwister (am ehesten die Resi) aber nie sie geohrfeigt. Unsere Oma ist dann jedenfalls tags drauf (zu Fuß natürlich, sicher fast eine Stunde Weg in eine Richtung) hingegangen zur Metzgerei und hat dem alten Chef klar gemacht, dass ihre Tochter zum Lernen in die Lehre geht und nicht um geohrfeigt zu werden. Es kam dann auch nie mehr vor. Unsere Schwarz-Oma war eine starke Frau.
Einmal, sagen wir Mutti war 16 Jahre alt, hatte sie in der Metzgerei Spätdienst, wahrscheinlich hunderte von Rinds-Rouladen wickeln oder etwas in der Art eben. Und am anderen Morgen war Frühdienst dran. Dann hat mir ihr gesagt: Du brauchst gar nicht heim gehen, in ein paar Stunden geht es schon weiter, da legst Du Dich oben in dem zweiten Zimmer hin und schläfst (wie hat man das eigentlich kommuniziert Telefon?). Und dann hat sich herausgestellt, sie musste sich das Bett teilen, da schlief schon einer mit demselben Schicksal, nur dass der zur Familie Neuer gehörte und ein junger Mann war, K.N. Naja, der war zu der Zeit ja schon vergeben, also, glauben wir ihr: Nichts passiert.
Als Mutti ein Schulkind war wurde sie, wie schon geschrieben, als Flüchtlingskind schlecht behandelt, gemobbt, gedisst also. Als Beispiel hat sie öfters erzählt, dass ihre Schulkameradin E.L. oft Äpfel in die Schule mitbrachte und in der Klasse verteilte (die Eltern hatten am sogenannten 1. Brückle eine Landwirtschaft; und Äpfel wurden wohl höher geschätzt als heute). Mutti aber hat von ihr nie einen Apfel bekommen.
Ein Lebensthema für Mutti war ihre Frisur. Sie hat immer beklagt, dass sie dünner Haare hat, und ich kenne sie nicht anders als mit Lockenwickler oder eben Lockenwickler-Frisur und Toupier-Künste. Bei Regengefahr wollte sie nicht aus dem Haus, weil schon ein paar Tropfen die Lockenwickler-Wirkung vernichten. Mutti hat ihrer Schwester Susi, also Susanne, im Lärchenweg, mehrere Jahre die Haare eingedreht, als die Susi es nicht mehr selbst konnte. Die Schwestern haben sich auch vorher schon gegenseitig desöfteren die Haare eingedreht. Wo wir gerade dabei sind. Sie hat dem Fritz, ihrem gleichalten Schwager, Papas engstem Bruder, die Haare mit Schuhcreme und Haarpomade nachgeschwärzt und geglänzt, und zwar am Tag von dessen Hochzeit, und das hat sich im Eichenweg in unserer Küche zugetragen. Auf den Hochzeitsfotos von Fritz und Gisela müsste man es erkennen. Ich weiß es ja nur aus Erzählungen.
Wer weiß noch eine Geschichte, einen Nach-Nachtrag? Kann noch eingefügt werden.