Ein schwieriges, aber interessantes Thema ist, ob man sich engagieren soll oder aufregen oder reagieren auf Sachen, die nicht höchste Priorität haben. Also das hier zum Beispiel. Offensichtlich, ich habe es ja nicht selbst gesehen, steht in Berlin an der Fassade der Alice Salomon Hochschule seit 2011 ein Gedicht von Herrn Gomringer (Jahrgang 1925). Auf Deutsch heisst es in etwa:
Alleen | Alleen und Blumen | Blumen | Blumen und Frauen | Alleen | Alleen und Frauen | Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer
In der ZEIT schreibt ein gewisser T. Kurianowic, dass das Gedicht nun entfernt werden solle, und dass das dann das Ende eines Streits um ‚Sexismus und Kunstfreiheit’ sei; klingt wie „Ende der Kunstfreiheit“.
Es ist erstmal nicht so ganz leicht zu sehen, wo hier der Sexismus ist. Frauen werden in eine Reihe mit Alleen und Blumen gestellt, also mit Dingen, auch wenn es schöne Dinge sind. Eine Allee, also ein links und rechts von Bäumen gesäumter Weg, und Blumen, ja, das kann ein schöner Anblick sein. Und besonders dafür hat man ja die Allee oder die Blume, wegen ihrer Schönheit. Und natürlich sind Frauen nicht 'wegen' ihrer Schönheit da. Sonst hätten ja weniger schöne Frauen keine Berechtigung zum Sein. Okay, Sexismus.
Aber wenn auch nicht Alleen, so haben zumindest Blumen keine Not, uns Menschen oder uns Männer hier um Berechtigung zum Sein zu bitten. Blumen gab es schon, bevor es überhaupt Menschen gab, und sie sind nicht für oder wegen der Menschen hier, sie sind quasi ewig und aus sich selbst heraus da, un-domestiziert, wild, ewig. Den Löwenzahn und die Heckenrose wird es immer geben, auch wenn es dereinst schon lange keine bewundernden Menschen mehr geben wird, und den Blumen wird es egal sein. Mehr als egal. In dem Sinne kann man auch Blumen bewundern, mehr bescheiden, im Wissen um ihre wilde Unabhängigkeit und um ihre Ewigkeits-Skala. Und in dem Sinne kann man auch jede andere Lebensform bewundern, und warum dann nicht auch Frauen? Wow, sind Frauen eine Lebensform, kann man statt einzelner Frauen sozusagen alle Frauen bewundern, als Mensch-Typ? Auch Frauen gab es schon, bevor es jeden einzelnen von uns gab, und nach jedem von uns als Person wird es weiter diesen Typ von Mensch geben: Frauen. Auch wenn wir persönlich keine davon jemals mehr bewundern werden. Und es wir ihnen auch egal sein. Eine Frau kann bewundern, dass es Frauen gibt, ein Mann kann bewundern, dass es Frauen gibt.
Vielleicht aber war es doch geschlechts-diskriminierend gemeint, wenn auch möglicherweise unbewusst, vielleicht als Folge einer verinnerlichten macho-haften Haltung, wer weiß das schon, ich kenne ja Herrn Gomringer nicht.
Und jetzt nochmals die Frage: Soll man sich mit etwas befassen, was nicht höchste Priorität hat. Zum Beispiel mit dieser Hausfassade – wo doch nach dem Krieg um Aleppo die Hausfassaden dort viel ernstere 'Probleme' haben. Oder mit dem Aussterben des nördlichen (oder war es das südliche?) Breitmaul-Nashorns, wo doch Menschengruppen aussterben, Menschsprachen aussterben, Menschenkunst, Menschenwissen. Wo doch Menschenkinder leiden und sterben, sinnlos, ohne echten Grund und Not (und was wäre das dann?).
Wir sind als Menschen eben ziemlich schlecht organisiert. Es gibt keinen Masterplan zur Weltverbesserung, wir sind uns überhaupt nicht einig über ‚ja’ oder ‚nein’ oder ‚wichtig’ oder ‚weniger wichtig’. Dadurch gibt es keinen Weg, das Wichtigste heute anzugehen, und danach morgen das Zeitwichtigste, und dann käme das südliche Breitmaul-Nashorn auch noch dran, es würde dann z.B. in sieben Monaten oder so gerettet, aber eben doch noch. Es gibt keine vernünftige Organisation unter uns Menschen. Jeder macht, was er will, die meisten Menschen machen im Sinne von „Weltrettung“ gar nichts. Viele haben tatsächlich eigene, echte Sorgen und haben damit genug zu tun. Manche andere Exemplare stehen an der Ampel, mit dem Fuß auf dem Gaspedal, und bei Grün machen sie einen Kavaliersstart, sagen wir um Frust abzubauen, jedenfalls nicht um die Welt zu verbessern. So ist es vermutlich unter den gegebenen chaotischen Umständen noch angemessen oder akzeptabel, wenn man eine zwar richtige, jedoch weniger wichtige Sache angeht, und wenn man zugleich eine richtige, aber sehr viel wichtigere Sache nicht angeht. Immer noch besser als sinnlose Kavalierstarts.
Wirklich?
Man kann immer sagen, dass man für die wichtigere Sache, das drängendere Problem, die Mittel zur Lösung nicht hat oder die Zeit oder die Ausbildung, oder dass sich der Erfolg nicht mehr in diesem Leben einstellen würde und so weiter. Aber nimm einmal an, diese Argumente wären nicht da.
Wenn wir die freie Auswahl hätten. Wir stehen mit mehreren Menschen am Straßenrand, und ein Mensch und ein Hündchen kommen in Gefahr – so, dass die Leute um uns herum und wir auch noch rettend eingreifen können. Nicht eingreifen wäre keine Option, klar. Den Menschen retten hat oberste Priorität, auch klar. Sollen nun alle Leute den Versuch machen, den Menschen zu retten, weil das ja für jeden einzelnen das Wichtigste ist, und mangels Management (es ist eben keine Zeit) kommt dann der Hund um; obwohl es Leute genug gab, um auch das kleine Wesen noch zu retten. Kann man aus dem Beispiel etwas lernen? Kann die Lehre sein, dass es nützlich ist, wenn nicht alle dasselbe tun? Es lebe die Diversität, die Demokratie, die Graswurzel, die Anarchie, sonst noch etwas im Angebot?
Aber, die Tatsache, dass nicht alle dasselbe tun, das große Durcheinander, das ist doch gerade der Grund dafür, dass wir nichts gebacken bekommen! Naja, nicht ‚nichts’, wenig halt.
Als 1989 – da war ich 30 Jahre alt, später in dem Jahr habe ich geheiratet – der Öltanker Exxon Valdez vor Alaska auf Grund lief und eine sehr große Ölpest auslöste, rief Greenpeace zum Boykott von Shell auf. Es waren natürlich nicht ‚alle’, wer weiß, vielleicht waren es 5% der Autofahrer, die darauf mit zeitweisem Shell-Boykott reagierten. Aber deren Markmacht war so groß, dass Greenpeace ‚gewann’ und Exxon deutliche Umweltzugeständnisse machte. Seither haben Öltanker eine doppelte Außenhülle. Es müssen nicht einmal alle mittun, schon eine Minderheit kann genügen, wenn sie organisiert auftritt. Ist das nun ein Beispiel dafür, dass man straffe Organisation braucht, um Wirkung zu erzeugen, oder dafür, dass es auch unorganisiert-von-unten her funktioniert?
Ich kann mir kein noch so großes Problem oderZiel denken: die Abschaffung der Wehrpflicht, die Legalisierung der Homo-Ehe oder die Legalisierung der Abtreibung oder weiblicher Priester in Rom oder das Ende des Atomstroms, Frieden und Neuaufbau in Syrien, alles das kann erreicht und getan werden, wurde ja teilweise schon getan. Und wenn wir organisiert wären, dann gäbe es kaum Grenzen. Wie sollte eine deutsche Regierung die Einführung einer wirksamen Vermögenssteuer unterlassen, wenn 30% oder auch nur 10% der Bundesbürger in Generalstreik träten? Also einfach nichts mehr täten, nicht zur Arbeit gingen, zuhause nur noch Butterbrote streichen würden, nicht mehr telefonierten, nichts mehr. Streik! Man kann wetten, dass die Vermögenssteuer nach weniger als zwei Wochen im Bundesgeneralanzeiger stünde und Gesetzeskraft hätte. Und warum, warum ist das keine Realität?
Warum haben wir keine starken Führer, einer von Greenpeace oder von Attac oder von #DEMObewegt, eine starke Führerin, die die Dinge organisiert und eins nach dem anderen erledigt, löst. Ach ja, so gefragt weiss ich wieder, warum das nicht so ist. Wir haben keinen solchen Führer, weil wir mehr als reichlich schlechte Erfahrungen gemacht haben mit denen, mit Tito, Franko, Mussolini, Hussein, Assad, Stalin, Ceausescu, mit Idi Amin, Pinochet, Pol Pot, Mugabe, Mao, Hitler.
Ok, deswegen fürchten wir die starke Hand, die die Sachen organisiert. Dann lieber schlecht organisiert im Schneckentempo voran. Ja.