Was heißt hier schon gefährlich, was heißt hier Risiko?
Ende Mai 2014 waren wir im Tierpark Saababurg (westlich von Göttingen), es war an Christi Himmelfahrt, das wäre beinahe unsere ‚Himmelfahrt’ geworden.
Wir gingen auf einem der Hauptwege dort, unter schönen alten Eichen, als ich unwillkürlich nach oben schaute. Ich hatte zweimal ein hartes Klacken oder Knacken gehört, und fragte mich, ob ein Rabe Steine oder seltsam schwere Nüssen auf den Boden wirft, das Geräusch war irgendwie außerhalb der Norm. Und noch bevor ich darüber auch nur „Papp“ zu Elsbeth sagen konnte, krachte ein sehr großer Ast, eigentlich ein halber Baum, fünf oder sechs Schritte vor uns auf den Boden. Aber nicht so, dass sich das Ungetüm an seiner Spitze langsam nach unten gebogen, dann aufgestützt und mit dem Hinterteil (dem schweren Teil) dann hinterher nach unten gekommen wäre, nein, das schwere Teil, mit dem alles einen Wimpernschlag davor noch oben am Baum festhing kam wie abgesprengt zuerst herunter, schwer und zack, und das belaubte Geäst entsprechend wie ein Fallschirm hinterher. Das Ganze hätte uns beide erschlagen können, wären wir fünf Schritte weiter vorne gewesen. Das Foto habe ich erst zehn Minuten später aufgenommen. Wir standen beim „Fall“ auf der nun anderen Seite der Barriere, etwas näher dran als ich dann beim Fotografieren stand.
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Die Ursache war (wir haben mit anderen Spaziergängern über die Sache gesprochen, einer davon war ein Förster mit Kenntnis): Eichen-Porling, ein Pilz. Der Pilz frisst das Holz von innen nach außen auf, die Blätter wachsen ganz normal weiter. Es hatte kurz zuvor etwas geregnet, und das Wasser in und auf den Blättern zusammen mit dem Laubwuchs machte in dem Moment den Ast schwerer als das angegriffene Holz eben gerade noch tragen konnte. Die harte Knacken (wie kleine Schüsse) war das innerliche Abreißen einzelner Holzfasern, und wie gesagt bog sich der Ast nicht zuerst herab sondern trennte sich direkt am Stamm vom Baum, wie abgesprengt, bevor und schneller als er sich überhaupt mit dem Laub herunter beugen oder biegen hätte können.
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Es ist die Frage, ob ein Spaziergang unter Eichen in einem öffentlichen Park wie diesem Tierpark gefährlich ist. Wie häufig wird es geschehen, dass ein nennenswert großer Ast auf diese Weise auf einen Spazierweg herunter-kracht und Besucher gefährdet? Es gibt in diesem Park viele Eichen, und es werden wohl mehr als nur eine davon von diesem Pilz befallen sein. Die Parkleitung sagte zwar, dass jährlich Fachleute die Bäume begutachten. Aber bitte, auf dem Foto sieht man gut, dass der Ast sehr gesund belaubt aussieht, ganz frisch, was soll man bei einem solchen Bild Schlechtes von dem Baum denken?
Wenn die Chancen, einfach als Beispielszahl, an einem konkreten Tag im Mai eins zu 5000 stehen, dass so ein schwerer Ast herunterstürzt, ist das dann schon eine ‚gefährliche’ Gefahr? Ich würde sagen: Nein. 5000 gegen eins, (also P = 0,9998), das kann man getrost einmal eingehen. Hier links sind 5000 kleine schwarze Punkte, nur einer davon ist grau, und den zu erwischen ist, wenn man zufällig zugreift, ist ja wirklich keine Gefahr (es ist übrigens der viertletzte Punkt). Man muss es ja fast schon wissen welcher es ist um ihn überhaupt einmal zu erwischen (und eine Brille braucht man auch).
Aber wenn dieser Park über 50 Jahre Gäste hat, und wenn die Saison, in der es zu solche Abbrüchen kommt 10 Wochen wäre, also 70 Tage, beispielsweise, und wenn die Wahrscheinlichkeit dass ein Ast, falls er abbricht, dann auch einen Menschen trifft recht klein ist, was folgte daraus? |
Jeder der 70 Tage in den 50 Jahren wäre ein eigenes Zufallsexperiment; 70 x 50 = 3500 Experimente. Die Wahrscheinlichkeit, dass in allen diesen 3500 Experimenten kein einziges Mal im Park ein solcher Ast herunterkommt, wäre nach diesen Annahmen (1 – (1/5000))3500, das ist 0,99983500. Die 0,9998 ist ja die Wahrscheinlichkeit, dass an einem x-beliebigen einzelnen Tag nichts geschieht. Und 0,99983500ist die Wahrscheinlichkeit, dass an allen 3500 Tagen zugleich nichts geschieht; ich nehme eben an, dass das jeden Tag sozusagen neu ausgewürfelt wird. Das Resultat ist 49,7%, rund 50%. Also, in einer Park-Karriere von 50 Jahren stünde es etwa 50:50, dass so etwas mindestens einmal geschieht oder eben nie geschieht. Die Wahrscheinlichkeit soll ja aber klein sein, das es dann einen Menschen trifft, und so kann man hoffen, dass - wenn überhaupt - es so ausgeht wie bei uns. Also ganz glimpflich.
Aber jetzt trotzdem. Wenn man etwas sehr viele Male austestet, dann muss diese Sache jedes Mal ziemlich risiko-arm sein, sonst wird einmal oder mehrmals in der langen Serie die Gefahr real eintreten.
Welches Gesamt-Risiko sollen wir akzeptieren, also, dass einmal in einer langen Serie uns doch ein Unglück geschieht? Wie wäre es mit höchstens 1%? Nehmen wir ein weniger spektakuläres Beispiel. Wenn man ein Leben lang täglich zweimal die Stufen von der Haustür nach draußen heruntergeht, will man sich dabei niemals den Hals brechen. Da wäre doch „höchstens 1%“ wünschenswert.
Wie vorsichtig, sicher, kontrolliert müssen wir jeden Tag zweimal die Stufen heruntergehen, damit bei diesem Verhalten in sagen wir 80 Jahren nie der Hals dran glauben muss? 80 Jahre, täglich zweimal, das ist eine Serie von 58400 Wiederholungen (W) des Experimentes, W=58400. Nennen wir die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer Wiederholung des Experimentes alles gut geht, P, so wie P=99%, und das Risiko des einzelnen Experimentes ist dann 100% - P, so wie 1%.
Wie rechnet man aus, wie bei einer Sache, die jedes einzelne Mal ein kleines Risiko enthält, und bei W=58400 insgesamt: wie also in einer langen Serie von Wiederholungen die Sicherheit der Einzelaktion P mindestens sein muss, damit dann die Gesamtsicherheit G über einem Wert von z.B. G=99% bleibt (Gesamt-Risiko also unter 1%)? Also, wie hoch muss P mindestens sein, damit G hoch genug bleibt bei einer hohen Zahl von W?
Das geht mit Logarithmus, zum Beispiel mit dem Logarithmus naturalis, ln. Weil PW=G ist, resultiert
W · ln(P) = ln(G), ln(P)=ln(G)/W, und P=e^[ln(G)/W].
Randbemerkung: e^[ln(G)/W] soll hier heißen; "die Eulersche Zahl 2,71828183 hoch [ln(G)/W]".
Also, P=e^[ln(0,99)/58400), und das ist P=0,999999828 .
Das ist ein Wert sehr nahe an 1, es entspricht einem wirklich sehr kleinen Risiko von nur 1 zu 5810752, 1 zu fast 5,8 Millionen. Wobei man die letzten ein oder zwei Wiederholungen abziehen muss, also man vielleicht nur mit W=58398 rechnen sollte, weil man ganz zuletzt ja sowieso sterben muss, bei aller Vorsicht.
Aber zurück zum Thema. Das Treppensteigen muss als täglich mit weniger als 1 zu 5,8 Millionen als Risiko behaftet sein, das ist noch viel weniger als das 1 zu 5000, das oben mit den Punkten dargestellt ist; und nur dann (ok, selbst dann nur mit 99% Sicherheit) ist zu erwarten, dass man lebenslang bis zum letzten Tag ohne Halsbruch durchkommt. Ich bezweifle, ob man für alles, was man tagtäglich über lange Zeit wiederholt, diese extrem hohe Sicherheit einhält.
Nun muss man auch bedenken, dass - wenn man diese extrem hohe Sicherheit nicht einhält daraus nicht folgt, dass man sich bestimmt einmal im Leben den Hals bricht. Das ist ja ganz offensichtlich gar nicht der Fall. Die wenigsten kommen so um, trotz der vielen Treppen. Es heißt nur, dass es einem vielleicht geschehen kann, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als die angestrebte, niedrige Wahrscheinlichkeit von 1%.
Das Ganze gilt sinngemäß, wenn man täglich als Fußgänger bei Rot über Ampeln geht, wenn man immer wieder mit einem Glas Bier noch Auto fährt, wenn man immer wieder bei Eis und Schnee das Fahrrad benutzt, immer wieder ein Fischstäbchen in Eile verzehrt (Gräten); solche Sachen halt.
In dieser Berechnung steckt auch eine gute Nachricht. Wenn man eine nicht ganz ungefährliche Sache nur einmal oder nur ganz wenige Male im Leben macht, dann kann man ein klitze-kleines-bisschen Risiko schon mal akzeptieren, also wenn es zum Beispiel darum geht, Spaß am Leben zu haben. Ok, nur diese bestimmte Sache, die man nicht sehr oft macht, ist womöglich trotz einiger Wiederholungen als kurze Serie nicht allzu gefährlich - über das Leben als Ganzes sagt das natürlich nichts.
Es kann sich ja jeder selbst etwas ausdenken. Ohne weitere Recherche mit einer reizenden Dame nach Hause gehen, zum Beispiel. Wenn man das im Leben nur sagen wir dreimal oder zwölfmal macht, dann ergibt sich aus G=PW, also: das wäre bei dreimal und wenn man jedes Mal einschätzt, ok, die Situation ist zu 99% tragbar (das ist 1:100; also schon sehr wahrscheinlich in Ordnung, aber nicht total ), na, dann ist die Gesamt-Sicherheit noch 0,993=G=0,9703, das ist vielleicht noch ok. Ziemlich wahrscheinlich geht es also auch dreimal in Serie gut aus. Und 12 Mal? Man kann direkt rechnen, 0,9512, das gibt 0,8864, also auch bei 12 Mal steht die Chance etwa 1 : 9 dafür, dass es in der ganzen „12-er-Versuchsserie“ gut ausgeht. Was hier immer auch ‚gut’ und ‚Risiko’ heißen mag. J
Wenn aber die Sicherheit bei einem Mal nur z.B. 1:6 ist, das wäre P=0,8333, dann ist schon ein einziges Mal gefährlich, und eine Serie von 3 mal oder von 12 mal führt mit 42% oder sogar mit 89% Wahrscheinlichkeit ins Unglück.
Kurz und rund: Eine Sache, die zwar sicher aussieht aber nicht total sicher ist, kann man schon einmal machen, oder auch einige wenige Male wenn es wirklich sein muss. Aber alles, was man jeden Tag tut, immer und immer wieder, das sollte wirklich gut überlegt und sehr sicher sein; es sei denn das Misslingen ist nicht so schlimm. Wenn das Misslingen einer tagtäglichen Übung schwerwiegende Konsequenzen hat, dann wäre es ratsam, wenn die tagtägliche Übung sehr sicher wäre.